Der Neubau der Lauterbacher Stadtkirche
Die meisten Lauterbacher wollten nach dem Vorfall am 8. August 1762 nicht mehr in die alte Kirche gehen. Im Gemeindebrief Nr. 300 wurde berichtet, dass die Betstunden und Trauungen in das Rathaus und die Gottesdienste in die Wendelskirche verlegt wurden.
So beauftragten Stadtrat und Herrschaft die Baumeister Georg und Georg Veit Koch, Vater und Sohn aus Rodach, mit dem Neubau der Kirche. Die beiden besaßen bereits einen gewissen Ruf, weil sie Friedhofskirche, Stadtkirche und außerdem das Schloss in Rodach, die Sommerresidenz der Herzöge von Sachsen-Coburg, gebaut hatten.
Gleich nach Ostern, am 22. April 1763, wurde mit dem Abbruch der alten Kirche begonnen. Tags zuvor war in ihr die letzte Betstunde gehalten worden. Inspektor Schmitt stellte in seiner Rede neben die Trauer über den Abschied von der alten Kirche die Dankbarkeit gegen Gott und die Pflicht zum Gebet für das Gelingen des Neubaus. In die Fürbitte wurden die Landherrschaft, die Stadträte und alle am Bau Beteiligten eingeschlossen.
Weniger als sechs Wochen später wurde am 31. Mai 1763 mit den Ausschachtungen für die neue Kirche begonnen. Ihre Achse wurde nun um 90 Grad in die Süd-Nord-Richtung gedreht, weil sonst der Platz für die größere, neue Kirche zu eng gewesen wäre. Der Turm sollte seinen Platz am Markt behalten.
Da die Steine zum größten Teil bereits vorhanden und bearbeitet waren, konnte der untere Teil des Kirchenschiffes in recht kurzer Zeit aufgebaut werden.
Grundsteinlegung
Am 17. August 1763 konnte bereits die Grundsteinlegung stattfinden. Diese wurde in feierlicher Gegenwart zweier Mitglieder der Herrschaft des Freiherrlich-Riedeselschen Hauses und des Grafen von Heiden-Hompesch begangen. Die Glocken waren auf dem jetzigen Friedensplatz in unmittelbarer Nähe der Baustelle in einem Holzgerüst aufgehängt. Sie läuteten um 10 Uhr zum Beginn der Feierlichkeit, an der geistliche und weltliche Beamte, der Stadtrat, die Kirchenältesten und Vorsteher der eingepfarrten Gemeinden, die Bürgerschaft mit ihren Zünften und Handwerker teilnahmen.
Aus den Eintragungen der Urkunde ist unter anderem bekannt, dass damals in Lauterbach, der Vorstadt Wörth, Rimlos, Heblos und Steinmühle insgesamt 2828 Seelen (2023 Erwachsene und 805 Kinder unter 13 Jahren) lebten. Man sang den Choral „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ und den letzten Vers von „Nun lob mein Seel den Herrn“.
Am 18. Oktober 1764 war der Rohbau des Kirchenschiffes fertiggestellt. Jean Louis Tilleur schrieb hierzu in seiner Chronik, dass sich katholische und protestantische Bauleute auf das Gesims stellten und mit heller Stimme „Allein Gott in der Höh sei Ehr“, „Nun danket alle Gott“ und „Meine Hoffnung stehet feste“ sangen.
Montags drauf fingen die Zimmerleute an, das Holz aufzustellen, zunächst bei schönem Wetter; später wurde ein Teil des getanen Werks wieder durch einen Orkan zerstört. Aber nach gut drei Wochen konnte ab dem 14. November das Richtfest gefeiert werden.
Richtfest
Es wurde von den Handwerkern vier Tage lang gefeiert. Tilleur beschreibt diese Feierlichkeiten sehr ausführlich. Bereits Tage vorher schmückten junge Frauen der Stadt einen großen Tannenzweig mit allerlei Silber, 12 Paar Strümpfen und anderen selbstgemachten Dingen. Das Fest begann mittags um ein Uhr: Eine Kapelle zog vom Rathaus über die Burg vor Bürgermeister Heußers Haus, gefolgt von Zimmermeistern, Zimmergesellen und Wappenträgern. Nachdem der ganze Zug dreimal um die neue Kirche gelaufen war, wurden mit Musikbegleitung vom Chor und den Handwerkern die beiden Choräle „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“ und „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ gesungen. Dann verkündete ein Zimmergesell einen Richtspruch und trank auf die Gesundheit der Herrschaft, der Beamten und der Baumeister. Mit dem Lied „Nun danket alle Gott“ fand diese Feier ein Ende.
Jetzt begann die ungezwungene Feier der Handwerker. Sie erhielten gemeinsam mit den Musikanten im Rathaus eine Mahlzeit mit Bier und Schnaps, anschließend wurde getanzt. Am Tage drauf zogen alle durch die Straßen der Stadt und bekamen großzügige Spenden von Bürgern, wovon sie sich zwei weitere lustige Tage machten! Ende November begann der Lauterbacher Schieferdecker Schmitt das Kirchendach mit Schiefersteinen zu bedecken; er arbeitete aber zu flüchtig, so dass es schon bald durchregnete.
Bau des Kirchturms
Nachdem der Rohbau des Kirchenschiffes beendet war, begann man erst mit dem Neubau des Turmes auf der Südseite. Am 2. November 1765 war der neue Turm bereits so weit gebaut, dass an diesem Tag die Glocken, die auf dem Friedensplatz standen, zum ersten Mal im neuen Kirchturm geläutet werden konnten. Tilleur schreibt, dass die Schönheit der Glockenharmonie und die Freude, dass der Kirchenbau so weit gediehen sei, viele Lauterbacher zum Weinen rührte.
Erst am 14. August 1766 wurde das Mauerwerk des Turms zu Ende gebracht, zuerst mit Instrumentalmusik vom Turm, dann wieder mit den Chorälen „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ und „Nun danket alle Gott“. Nach einem viertelstündigen Glockengeläut wurde auch dieser Bauabschnitt beendet.
Der Innenausbau
Heute wundert man sich, wie schnell der Rohbau der Kirche und des Turms fertiggestellt waren - etwa 3 Jahre nach dem Tag der Grundsteinlegung. Vom Richtfest bis zur Aufnahme des regelmäßigen Gottesdienstes im September 1768 verging eine vergleichsweise lange Zeit.
Dies hatte den Grund, dass das Geld zur Fertigstellung fehlte. Die Herrschaft und die Bürgerschaft hatten hohe Beträge gespendet. In Frankfurt, Hamburg, Nürnberg, Wiesbaden, Hanau, Coburg, Danzig und in den nassauischen Landen waren Kollekten gesammelt worden, aber von Kollekten allein ließ sich auch damals schon keine Kirche bauen.
Im Januar 1765 wurde der Bürgerschaft vom Stadtrat mitgeteilt, dass zukünftig sonnabends zwei Männer in Lauterbach und auf dem Wörth, in Rimlos und in Heblos mit einer Büchse von Haus zu Haus gehen und um eine Gabe zum Kirchenbau bitten würden.
Im September 1766 trat ein völliger Stillstand der Arbeiten ein. Der Geldmangel begleitete den Lauterbacher Kirchenbau wie ein Gespenst, das den Freiherren, Pfarrern und Ratsherren den nächtlichen Schlaf raubte. Als im Frühjahr 1767 wieder ein paar Gulden vorhanden waren, wurden die Arbeiten im Innern der Kirche wieder aufgenommen. Man hoffte so, bis Michaelis (29. September) 1768 fertig sein zu können.
Aus alten Büchern weiß man nur, dass bereits am 4. Advent des Jahres 1767 ein erster Gottesdienst mit provisorischer Inneneinrichtung stattfinden konnte. Völlig fertiggestellt war die Kirche dann neun Monate später, als die neue Orgel in Betrieb genommen werden konnte. Leider ist von dem ersten Gottesdienst und der Einweihung der Kirche nichts weiter bekannt. Auch in der ausführlichen Chronik von Tilleur gibt es keine Zeilen zu diesem Ereignis.
Damit hatte das Kapitel „Stadtkirchenneubau“, das drei Jahrzehnte lang die Herrschaft, den Stadtrat und die Lauterbacher Bürgerschaft sorgte, einen Abschluss gefunden.
Veränderungen nach 1768
Schnell zeigten sich die Nachteile des beim Bau herrschenden Geldmangels. Manches war nicht so solide gebaut, wie es hätte sein müssen: Bereits nach zehn Jahren wies das Dach ernste Schäden auf, so dass der Dachstuhl 1779 aufwändig repariert werden musste. Die Herrschaft spendete das Holz, da die Kirche immer noch verschuldet war.
Eine neue Kirchenuhr, die auch die Viertelstunden schlug, wurde im Sommer 1780 angeschafft.
Nur die beiden unteren Geschosse des Glockenturmes stammen noch aus der Erbauungszeit, die beiden oberen wurden bereits ab 1820 in schlichteren Formen als geplant neu erbaut. Das ursprüngliche dritte Obergeschoss mit Plattform und Balustrade wurde durch eindringendes Wasser schadhaft und musste abgerissen werden. Noch heute trägt der Turm das schlichte Glockengeschoss und den achteckigen Aufsatz mit kupfergedecktem Kuppelaufbau. Die ursprünglich geplante pyramidale Spitze aus Sandstein konnte wegen des Geldmangels nie ausgeführt werden.
Die Kirche ist heute unverändert 43 m lang und 19 m breit. Sie entstand zu einer Zeit, als Spätbarock und Rokoko sich zum Klassizismus wandelten. Während Landbaumeister Hoffmann 1817 erklärte: „Die Kirche ist nach einem üblen Geschmack gebaut!“ bezeichnet sie das Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler als „die größte und schönste der zahlreichen seit dem 30-jährigen Krieg im Vogelsberg erbauten Kirchen“.
Jutta Heß
(Foto: Claudia Regel)