Von "Unanständigen" und dem Beichtgeheimnis

02.10.2018 - Lauterbacher Anzeiger

LAUTERBACH (eig) - Die Lauterbacher Stadtkirche wird in diesem Jahr 250 Jahre alt. Im Rahmen der derzeit laufenden Veranstaltungsreihe zu diesem stolzen Jubiläum widmete sich Baron Henn Riedesel Freiherr zu Eisenbach in einem Vortrag den Zeitumständen, in denen das Gotteshaus erbaut worden ist. Unter dem Titel "Das kirchliche und weltliche Leben rund um die Stadtkirche vor 250 Jahren" fanden sich am Donnerstagabend zahlreiche Besucher zu dem Vortrag ein.

Interessant und kurzweilig schilderte Henn Riedesel die Rahmenbedingungen, unter denen damals die heutige Stadtkirche entstand. Die waren eigentlich alles andere als günstige - der Siebenjährige Krieg (1756 bis 1763) war gerade zu Ende gegangen und auf der Stadt und ihrem Umland sowie den riedeselischen Untertanen lagen hohe Lasten. "In diesem Krieg befand sich Lauterbach eigentlich zwischen den Fronten. Die Ried-esel hielten schon traditionell zum katholischen Kaiserhof in Wien, die Bürger der Stadt sympathisierten dagegen mit dem protestantischen preußischen König", brachte Henn Riedesel die ambivalente Stimmung im Riedeselland auf den Punkt. Während des Krieges brachten marodierende Truppen die Bevölkerung vielfach um Hab und Gut. Durch umherziehende Werber wurden selbst Halbwüchsige als Soldaten angeworben. "Das ganze Land verarmte, und das in der großen Zeit des Kirchenbaues", so der Referent.
 
Der gotische Vorgängerbau am Ort der heutigen Stadtkirche galt als zu klein und außerdem als baufällig. Ein lauter Knall während des Gottesdienstes am 8. August 1762 machte die Menschen in der überfüllten Kirche Glauben, das Gebäude würde jeden Augenblick zusammenstürzen. Es kam zu einer Massenpanik, da jeder die Kirche so schnell wie möglich verlassen wollte. Obwohl nach dem Gottesdienst Zimmerleute feststellten, dass keine Gefahr bestand, wagten sich von nun an nur noch wenige Lauterbacher zu den Gottesdiensten. Und so beauftragte das Konsistorium in der riedeselischen Residenzstadt die beiden Baumeister Georg und Georg Veit Koch aus Rodach mit dem Neubau. Der damalige Lauterbacher Chronist und zeitweilige Bürgermeister Jean Louis Tilleur hat diese Zeit schriftlich festgehalten. Aus seinen Aufzeichnungen zitierte auch Henn Riedesel mehrfach.
 
Gleich nach Ostern 1763 begann der Abbruch der alten Stadtkirche. Die Gottesdienste fanden nun vorübergehend in der St.-Wendels-Kirche statt. "Heute erinnert sich niemand mehr daran, dass einmal mehr als vierhundert Jahre lang diese Kapelle auf dem Gelände des heutigen Gymnasiums stand", so Ried-esel. Da die Kapelle zu klein war, mussten die Gottesdienste nacheinander abwechselt stattfinden, damit die ganze Gemeinde daran teilnehmen konnte. Und die Teilnahme am Gottesdienst war damals Pflicht. Dafür sorgte die 1629 von der riedeselischen Herrschaft erlassene Kirchenordnung. "Seien Sie froh, dass die heute nicht mehr in Kraft ist", meinte der Referent schmunzelnd zu den Besuchern. Um die Heiligung des Sonntags durchzusetzen, waren die Kirchenältesten gehalten, durch die Stadt zu gehen und jeden zur Anzeige zu bringen, der unentschuldigt dem Gottesdienst fernblieb. Auch wurde eisern darüber gewacht, ob während des Gottesdienstes geschlafen oder auch ein Schwätzchen gehalten wurde. Die Sitzplätze in der Kirche wurden damals versteigert - wer viel bezahlte, hatte damit auch das Recht erworben, möglichst weit vorne Platz nehmen zu dürfen.
 
Ein Beichtgeheimnis war im 18. Jahrhundert noch unbekannt. Vielmehr musste der Inhalt der Beichten von den Pfarrern - die auch riedesel'sche Beamte waren - an die Herrschaft gemeldet werden. "In der Regel wurden die Beichten aber vergeben, außer es handelte sich um schwere Vergehen wie zum Beispiel Holzdiebstahl. Daran sieht man auch, dass Obrigkeit und Kirche ein und dasselbe waren", erklärte Henn Riedesel. Reine Geldstrafen waren im Übrigen nicht so demütigend wie andere Strafen, die in der Kirchenordnung angedroht wurden. So mussten Sünder bei kleineren Vergehen barfuß und mit der Kerze in der Hand für alle sichtbar in der Kirche stehen - bei größeren Vergehen wartete der Pranger draußen am Rathaus. "Man ging damals davon aus, dass derjenige, der Gott gegenüber nicht gehorsam ist, es auch nicht gegenüber der weltlichen Obrigkeit ist", so Henn Riedesel.
 
Die Riedesel zu Eisenbach waren seit der Reformation die oberste kirchliche Instanz in ihrem Herrschaftsgebiet. Sie setzten auch die Pfarrer ein. Es gab eine eigene riedeselische Landeskirche mit eigener Liturgie und ab 1786 schließlich auch einem eigenen Gesangbuch. Das hatte ein Mitglied der herrschaftlichen Familie damals einführen lassen, weil er nach eigenen Worten "an dem alten Geleier keinen Gefallen mehr fand". Predigten und Lieder waren wichtig, denn mehr als zwei Drittel der Bevölkerung von Lauterbach waren damals mehr oder weniger Analphabeten.
 
Baron Henn Riedesel schilderte während seines Vortrages auch, wer damals überhaupt an den Gottesdiensten teilnahm. Das waren die Mitglieder der freiherrlichen Familie selbst, die riedeselischen Beamten, die Bürger und schließlich auch die Bewohner des städtischen Armenhauses und Spitals. Zur Zeit der Kirchenweihe 1768 hatte Lauterbach nur 2 140 Einwohner bei einer Zahl von 386 Häusern. Die Stadtbürger waren in der Regel einfache Ackerbürger, die Misthaufen befanden sich vor jedem Haus. Zu den Armen der Stadt gehörten auch die Bettler, die damals von den Riedeseln sogar ein offizielles Bettelpatent erhielten, das ihnen die Erlaubnis zum Betteln gab. Wer welchem gesellschaftlichen Stand angehörte, war auch von außen an der Kleidung ablesbar. Sich nicht standesgemäß zu kleiden, galt im wahrsten Sinn des Wortes als "unanständig".
 
Zum Abschluss der gelungenen Veranstaltung gab Kirchenmusikerin Claudia Regel noch einen Eindruck davon, wie die damalige Musik in der Stadtkirche geklungen haben muss. Auf der Orgel spielte sie das Lied "Herr ist unser Gott", das aus dem Riedeselischen Gesangbuch von 1786 stammt. Von der Bäckerei Günther gestiftet wurde außerdem Brot, das nach einem Rezept aus einem Koch- und Backbuch von 1765 gebacken worden war.

Quelle: Lauterbacher Anzeiger, "Von "Unanständigen" und dem Beichtgeheimnis", 02.10.2018  [zum Artikel]

Lauterbacher Anzeiger: Von "Unanständigen" und dem Beichtgeheimnis - 02.10.2018
Foto: Eigner

Zurück